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Die neue neue Sicht der Erde

Vor 50 Jahren, im Dezember 1972, nahm die Besatzung der Mond-Mission Apollo 17 aus 29’000 km Entfernung ein Foto der Erde auf, das in der Folge als Blue Marble (Blaue Murmel) populär wurde. Vor allem die damals entstehende Umweltschutzbewegung verbreitete es auf Postern und T-Shirts, versinnbildlichte es in ihren Augen die Verletzlichkeit und Einzigartigkeit des Planeten Erde.

Blue Marble, aufgenommen von Apollo 17 am 7. Dezember 1972 (Quelle)
Lovelocks Gaia Diagramm: die Erde als kybernetisches System mit Feedback (Science Museum)

Ebenfalls 1972 veröffentlichte der Chemiker und Geräte-Entwickler James Lovelock (1920-2022) einen Artikel, indem er die Biosphäre als ein System beschrieb, das günstige Bedingungen für ihr Überleben wie der pH-Wert der Ozeane und die chemische Zusammensetzung der Erdatmosphäre und damit das Klima selbst regulieren kann. Diesem System gab er den Namen Gaia, “the Greek personification of mother Earth”, wie Lovelock explizit schreibt.

Die Gaia-Hypothese wurde von der damaligen New-Age-Bewegung bereitwillig aufgenommen und die Erde als beseelter Organismus, als fürsorgliche Mutter missverstanden:

„The general public enthusiastically embraced Lovelock and his hypothesis. People joined Gaia groups; churches had Gaia services, sometimes with new music written especially for the occasion. There was a Gaia atlas, Gaia gardening, Gaia herbs, Gaia retreats, Gaia networking, and much more. And the range of enthusiasts was – and still is – broad.“

Michael Ruse

Diese Bilder von Blue Marble und mythologischer Gaia prägten für lange Zeit die Vorstellungswelten der politischen Umweltschutz-bewegung und der Gegenkultur. Mögen sich der verletzliche, schutzbedürftige Planet und die fürsorgliche Mutter Erde konzeptionell stark unterscheiden, ähneln sie sich doch in einer Beziehung: die Erd-Kugel scheint statisch und passiv, Gaia ist im Gleichgewicht und verändert sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam und über grosse Zeiträume.

An diesem Eindruck waren Lovelock und Margulis nicht unschuldig:

“For them, the chief feature of life was balance, stability, or what is known as ‘homeostasis’ — that is, the maintaining of balance through dynamic interacting processes. Earth is in homeostasis so it is living.”

Michael Ruse

Vierfache Revolution

Auch wenn die Bilder von Blue Marble und Gaia damals neu waren, war der ihnen innenwohnende Gradualismus und Uniformitarismus bereits seit dem 19.Jahrhundert in Geologie und Evolutionstheorie vorherrschend. Das Erdeinnere galt als regungslos und unveränderlich, nur der Verlust an Wärme und die langsame Kontraktion der Oberfläche machten eine Ausnahme.

“Mountains had been uplifted by the contraction like wrinkles on a drying apple, but the continents as a whole, and the thousands of miles of rock below them, stayed put.”

David Loper

Nahezu zeitgleich mit der Veröffentlichung und Verbreitung von Blue Marble und der Gaia-Hypothese kam es in den Jahren um 1970 zu einer multiplen Revolution in Geologie und Evolutionstheorie:

“ … the years 1966-73 alone saw the emergence of of four major new perspectives on the dynamics of the Earth: (1) the full confirmation and development of the theory of plate tectonics; (2) a new appreciation of the role of extraterrestrial impacts in shaping Earth history; (3) the thesis that evolution is punctuated by catastrophic bursts linked to major geophysical events; and (4) the beginnings of the idea that the different components of the Earth function as an integrated system – first expressed in the Gaia hypothesis … “

Clark & Szerszynski 2020, 22 (s.a. Brooke 2014, 25-36)

Im Einzelnen hatten die in dieser konstruierten zeitlichen Zuspitzung aufgeführten Entdeckungungen und Neukonzeptionen vorerst wenig miteinander zu tun. 1966 wiesen US-amerikanische Ozeanologen die alternierende Magnetisierung des Meeresbodens beidseits des mittelozeanischen Rückens nach. Diese Messungen lieferten die endgültige Bestätigung der Plattentektonik, jener Theorie, die Erdbeben, Vulkanausbrüche und driftende Kontinentalplatten miteinander verbindet.

Ein EIndruck von der Dynamik des Erdinnern vermittelt diese Illustration der Haupttypen von Plattengrenzen (Quelle)

“All you really need to know is that there are marine fossils at the top of Everest, scraped off the floor of an ancient ocean and pushed up into the sky as India collided with Asia.”

Bryan Lovell

1973 fanden US-amerikanische Geologen in einer Gesteinsschicht im italienischen Gubbio (Apennin), die von der sogenannten Kreide-Paläogen-Grenze (vor ca. 65 Mio Jahren) datieren, ungewöhnlich hohe Konzentrationen des Metalls Iridium, die auf einen Meteoritenschlag deuteten. Weitere Untersuchungen, die sie schliesslich 1980 in einem aufsehenerregenden Paper publizierten, liessen sie einen ca. 20 km grossen Asteroid postulieren, dessen Einschlag zum Aussterben der Dinosaurier geführt haben soll. Der Einschlagskrater wurde 1987 auf Yucatan in Mexico gefunden.

Häufigkeit von Impaktereignissen, aufgetragen gegen Energie (in Joules und Megatonnen); K/T = Kreide-Tertiär (alt) = Kreide-Paläogen (neu) (Quelle)

Diese Entdeckungen wiederum gab den neuen Theorien von Paläontologen Auftrieb, die in den 1970er Jahren begonnen hatten, den Fossilbericht neu zu interpretieren. Anstelle eines phyletischen Gradualismus (konstante Evolutionsrate) postulierten Edredge und Gould einen Punktualismus (“punctuated equilibrium“). Statt einer langsamen und mit konstanter Geschwindigkeit fortschreitenden Transformation biologischer Arten sahen sie in den “Lücken” im Fossilbericht Belege für den Wechsel von Stasis mit schnellem Wandel, u.a. hervorgerufen durch Massenaussterben.

Prozentualer Schwund an Gattungen von Meereslebewesen. Die stärksten Ausschläge markieren sog. Massenasussterben (“Big Five”) und Holozän (H). (Quelle)

Die Gaia-Theorie von Lovelock und Margulis steht auf beiden Seiten dieser “Revolution”. Zunächst vom damaligen New-Age-Mainstream als teleologischer Super-Organismus rezipiert, war es für seriöse Evolutionstheoretiker ein Leichtes, die Theorie zu kritisieren und zu ignorieren. Erst die wissenschaftliche Gaia-Konferenz von 1988 bahnte der späteren Mainstream-Akzeptanz den Weg. Ein besonderes Verdienst der Gaia-Theorie war, dass sie die verschiedenen Sphären – und die entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen – in einem grossen Feedback-System vernetzte und integrierte. Waren die Geologen zuvor noch der Meinung, “life was there, but it did not matter”, hatte sich der Wind am Ende des Jahrhunderts gedreht: “The geological forces of life are hot stuff at present, as are gaian feedbacks”, in den Worten des Geologen Westbroek.

Vom neuen Bild zum Anthropozän

Aufgrund dieser Entdeckungungen und theoretischen Neukonzeptionen seit den 1960er-Jahren hat sich unser Bild von der Erde und von der Entwicklung des Lebens grundlegend gewandelt. Die Vorstellung einer passiven, sich nur sehr langsam verändernden Erde und einer kontinuierlich fortschreitenden Evolution der Lebewesen ist einer fundamental anderen gewichen: ein dynamisches Erdsystem, das unaufhörlich – sozusagen von innen und aussen – transformiert wird, und einer engen Verkopplung von unbelebter Litho-, Hydro- und Atmosphäre und der Biosphäre, deren Evolution manche Katastrophe erlebt hat und dadurch grossen Kontingenzen unterliegt.

Im Zusammenhang mit Klimawandel und Anthropozän ist diese “neue neue Sicht” auf die Erde aus zwei Gründen bedeutsam. Erstens stehen die neuen Erkenntnisse nicht im direkten Zusammenhang mit der Erforschung des Klimas und der Erderwärmung, sondern wurden vor allem durch Forschungsprojekte, deren Ursprünge im kalten Krieg liegen, angestossen. Selbst Lovelocks Gaia-Hypothese geht auf seine Mitarbeit am Raumfahrtprogramm der NASA in den 1960er-Jahren zurück.

Und zweitens hat sich diese bewegte Geschichte der Erde und des Lebens ohne das Zutun der Menschen ereignet. Dieses neue Verständnis einer aktiven und unruhigen Erde, wie es sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hat, setzt keine Aktivität von Menschen voraus. Es ist eine dem Erdsystem immanente Eigenschaft. Die Sozialtheoretiker Clark und Szerszynski nennen dieses Potential des Erdsystems, verschiedene Zustände einzunehmen, “planetare Multiplizität”:

“Primary among the many provocations of the Anthropocene is the emerging scientific consensus that the Earth has the potential to shift between different operating states – an aspect of what we are referring to as ‘planetary multiplicity’.”

Clark & Szerczynski

In den Worten des Geologen und Vorsitzenden der AWG, Jan Zalasiewicz, ist die Erde weniger ein einziger Planet als eine Reihe verschiedener Erden, die zeitlich aufeinandergefolgt sind, jede in einem anderen chemischen, physikalischen und biologischen Zustand.

Nur aufgrund dieses Erd-Verhaltens ist es uns Menschen möglich, zu einem sogenannten geologischen Faktor zu werden und durch unsere Interventionen die Erde in einen anderen Zustand zu versetzen. Das Erdsystem kehrt eben nicht zu einem Gleichgewichtszustand zurück, wenn wir nur unsere THG-Emissionen reduzieren; die Konsequenzen unserer anthropozänen Zumutungen sind über ein gewisses Mass hinaus nicht mehr reversibel.

“Only by thinking with and through the multiplicity inherent in the Earth, we would add, can we begin to make sense of the (uneven) capacity of our species to make a significant intervention in Earth processes.”

Clark & Szerczynski

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