oder: Die Frage nach dem Subjekt im Anthropozän
Gebäude und Strassen, Kugelschreiber und Luftballons, Flughäfen und (Super)Yachten, sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den Objekten, Artefakten und Infrastrukturen, die die Erde “bevölkern”. Jeden Tag, jede Stunde kommen wir mit moderner Technologie und ihren Produkten in Berührung. Angefangen mit unseren Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Bekleidung, selbst wenn sie organisch (biologisch, dynamisch …) angebaut und verarbeitet werden, könnten wir ohne moderne Produktions- und Transportmittel nicht lange überleben.
Zur sichtbaren Infrastruktur kommt die verborgene (Kanalisation, Leitungen) und unsichtbare (elektromagnetische Wellen, Satelliten). Die Schätzungen für unsere gegenwärtige Technosphäre belaufen sich auf 30 Billionen Tonnen (oder 50 kg pro m2 der Erdoberfläche), und damit um 5 Grössenordnungen schwerer als die Biomasse aller Menschen. Es ist aber nicht aufgrund ihrer Masse, dass die Technosphäre einen eigenen Namen und einen Status wie die Bio- oder Atmosphäre verdient.
“Die Prozesse, welche die Erde mit immer neuen technisch produzierten Objekten überfluten, haben eine Eigendynamik gewonnen, die in ihren Konsequenzen jener der Biosphäre, Atmosphäre oder Hydrosphäre vergleichbar ist”
Horn & Bergthaller 78

Anders’ Produktewelt
Mittlerweile erleben wir – je nach Zählung – die dritte oder vierte Welle der Industriealisierung. In der ersten Welle ersetzen Maschinen die Handarbeit und neue “rationale” Organisationsformen wie die Fabrik erhöhten die Produktivität. In der “zweiten industriellen Revolution” betrifft die Revolution das Produkt selbst: Maschinen stellen andere Maschinen her und verbessern sie. Die Technik entwickelt sich schneller, als die Menschen mithalten können. Der Mensch ist aufgrund seiner eigenen Fortschrittslust “antiquiert”.
Bereits in den 1950er Jahren diagnostizierte der Philosoph Günther Anders, dass die “Produktewelt” in ihrer ständigen Erneuerung, Vervielfältigung und Verknüpfung als Ganze quasi lebendig wird:
“Unsere Produktewelt definiert sich ja nicht durch die Summe einzelner endgültiger Stücke, sondern durch einen Prozess: durch die täglich neue Produktion täglich neuer Stücke. Sie definiert sich also gar nicht, vielmehr ist sie indefinit, offen, plastisch, täglich umbaubegierig, täglich adaptationsbereit für neue Situationen, täglich auf dem Sprung in neue Aufgaben.”
Anders 1956, 33
Haffs Technosphäre
Der Ingenieur und Geowissenschaftler Peter Haff führte das Konzept der Technosphäre in den frühen 2010er-Jahren in den Anthropozän-Diskurs ein:
“The proliferation of technology across the globe defines the technosphere – the set of large-scale networked technologies that underlie and make possible rapid extraction from the Earth of large quantities of free energy and subsequent power generation, long- distance, nearly instantaneous communication, rapid long-distance energy and mass transport, the existence and operation of modern governmental and other bureaucracies, high-intensity industrial and manufacturing operations including regional, continental and global distribution of food and other goods, and a myriad additional ‘artificial’ or ‘non-natural’ processes without which modern civilization and its present 7 × 109 human constituents could not exist.”
Haff 2013
Das Verhältnis Natur-Kultur hat sich umgekehrt
Agrarische Gesellschaften haben der Natur Kulturland abgerungen und Nutztiere gezähmt und gezüchtet. Die natürliche Vegetation musste entfernt und Schädlinge und Wildtiere zurückgedrängt werden, um in einem abgegrenzten Bereich günstige Bedingungen für bevorzugte Pflanzen- und Tierarten zu schaffen, entsprechend der ursprünglichen Bedeutung von lat. Cultura = Bestellung des Ackers.
“Im agrarischen Weltbild wäre die Vorstellung, Natur müsse vor Kultur geschützt werden, widersinnig, da hier die Natur gerade von selbst so ist, wie sie ist. Heute haben sich die Vorzeichen umgekehrt. Es ist die Gesellschaft, die von selbst so ist, wie sie ist, die sich spontan regeneriert.”
H&B 78
Skalen und Strata
Aus unserer, der menschlichen Perspektive, sind wir es, die Technologien hervorbringen und kontrollieren. Aber aus einer geologischen Perspektive erscheint die Technosphäre als eigenständige, autonome Dimension, wovon wir Menchen nur ein Teil sind, “subcomponents essential for system function.”
Einer ökologisch-inspirierten Skalierung folgend unterscheidet Haff drei Strata. Uns zugänglich ist Stratum II, weil diese Objekte eine uns vergleichbare Grössenordnung besitzen: Kühlschränke, Autos, Computer, etc. . Auf die technische Mikroebene (Stratum I) der Elektronik und der Phasenübergänge der Moleküle des Kältemittels haben wir keinen direkten Zugriff. Aber auch die Makroebene (Stratum III) des Verkehrssystems oder des Stromnetzes entzieht sich unser direkten Kontrolle:
“The electric power grid to which the refrigerator is connected is not under the owner’s control. In fact, the power grid is not really under anyone’s control. It is quasi-autonomous in the sense that it cannot be shut down by human decision except for short periods of time, and most of its function occurs without human intervention or even knowledge.”
Haff 2013
Wenn wir einerseits für das Funktionieren unserer globalen Zivilisation auf Technologie angewiesen sind, andererseits diese Technologien zu einem gewissen Grad autonom geworden sind und sich unserer Kontrolle und Steuerung entziehen, stellt sich die Frage nach der Handlungsmacht (agency): wer ist eigentlich das Subjekt des Anthropozäns? Die vielzitierte Formel, dass die Menschheit zu einer geologischen Kraft geworden ist, trifft in diesem Licht nur bedingt zu, denn neben die immense Kraft des Menschen stellt sich das Paradox des Kontrollverlusts.
Kritik am Küchentisch
Heisst das, dass die Menschen keinen Spielraum bei der Ausgestaltung der technischen System und damit auch keine Verantwortung besitzen? An Haffs Darstellung der Technosphäre als sehr grosses System (“single thing”) setzt die die Kritik der Technologiehistorikerin Gabrielle Hecht an. Das Verwischen von politischen Machtgefällen und wirtschaftlicher Ungleichheit rechtfertige den status quo:
“This vision has no sense that present technological systems could have been configured in any other way; it cannot account for (political, social) power differentials in technological systems; it leaves no possibility for change, no room for achieving broader “well-being.”
Hecht & Edwards 2017
Millionen von Menschen arbeiten jeden Tag an der Instandhaltung and Erneuerung unserer Infrastruktur und technischer Systeme – an manchen Orten mit Sorgfalt, während andere vernachlässigt werden. Diesen Unterschieden liegen politische Entscheidungen zugrunde, die von Menschen und nicht von autonomen Systemen getroffen und verantwortet werden, wie die TechnoWissenschaftsHistorikerInnen Hecht und Edwards in ihrer Debatte am Küchentisch herausstreichen.
Assemblage statt System
Auch der Medienwissenschaftler Derek Woods stellt in seiner “Skalenkritik für das Anthropozän” von 2014 die Frage nach dem Subjekt im Anthropozän und fasst die Technophäre nicht als System, sondern als heterogene Assemblage:
“Assemblage” describes large-scale, horizontal patterns of relation among ontologically different entities. Assemblages have potentialities and limits that are proper to their level of organization, and this level involves ‘downward causality,’ feedback loops that shape the elements of the assemblage.”
Woods 2014
Wie bei Haff ist der Mensch nur Teil der “terraforming assemblages” und wird entmachtet, das Subjekt des Anthropozäns ist “nonhuman”, wobei Wood den Menschen nicht Einflussnahme auf diese geologische Epoche absprechen will: “The point is to rewrite the epoch’s causes in order to see what forms agency takes and which mediators entangle it.”
“Das Subjekt des Anthropozäns ist nicht ‘der Mensch’, aber auch nicht bestimmte Gesellschaften oder ‘der Kapitalismus’ sondern eine bestimmte konkrete ‘Assemblage’ von Menschen, Infrastrukturen, Konsumformen, Energieregimen innerhalb der Technosphäre.”
Horn & Bergthaller 2020, 98
…
Zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem Konzept der Technosphäre hatte ich nur eine vage Vorstellung. Die Ideen von Haff und Woods finde ich sehr anregend und natürlich herausfordernd: Wie gehen wir damit um, wenn nicht wie in liberaler oder marxistischer Konzeption der autonome Mensch oder das Kapital das letzte Wort hat, sondern eine heterogene Assemblage? Welche neue Fragen und Optionen eröffnen sich dadurch? Lässt sich die autonome Technosphäre irgendwie bändigen?
Der Metabolismus der Technosphäre, wie Haff in Analogie zu Lebewesen formuliert, bietet hier einen ersten Ansatzpunkt. Sie verleibt sich Rohstoffe und Energie ein, rezykliert manche Stoffe und generiert viele Abfälle. Diese können gesundheitliche und Umweltschäden zur Folge haben. So scheidet das auf fossilen Energieträgern beruhende Energiesystem Kohlendioxid und Methan aus, die nur wenig rezykliert werden und vor allem zur Klimaerwärmung beitragen.
“In a closed environment like the Earth (essentially no mass input or output), every metabolizing system must eventually recycle its own waste products (or rely on other systems to do so), otherwise accumulation of spent material (i.e. pollutants) will impair system function.”
Haff 2013
So sehr die Umstellung auf erneuerbare Energieträger zu befürworten ist, werden auch sie Abfälle produzieren:
“Renewables technology is still technology. Trying to fix the climate problem by turning to renewables may therefore not lead where it seems.”
Haff 2013
Zusammen mit dem Ausbau von Photovoltaik, Windkraft etc. sollte deshalb auch die Vermeidung von Abfällen (“Verschmutzung”) und das Recycling von Abfallprodukten im Sinne der Circular Economy geplant und vorbereitet werden.