Bis vor kurzem war ich noch verhalten optimistisch und konnte den Glauben aufrecht halten, dass wir, d.h. die “Weltgemeinschaft”, es irgendwie schaffen, die 1.5°C-Grenze einzuhalten. Meine unausgesprochene Hoffnung war, dass es vielleicht doch nicht so schlimm kommt, dass sich die Klimawissenschaftler verrechnet haben, dass wir neue Technologien entwickeln, die CO2 aus der Atmosphäre binden, dass wir angesichts von mehr und gravierenderen Extremwetterereignissen “zur Vernunft kommen” und in der Folge den THG-Ausstoss so schnell und stark reduzieren, dass es nicht zu katastrophalen Folgen kommt.
Dieser Glauben ist mir in den letzten Wochen abhanden gekommen. In letzter Zeit habe ich zuviele Berichte, Zahlen und Graphiken gesehen, und vor allem wahr- und ernst genommen, die befürchten lassen, dass wir die 1,5°-Grenze deutlich überschreiten. Der globale Ausstoss an THG nimmt nicht ab; die Zeit, die bleibt, um das angestrebte Reduktionsziel zu erreichen, wird immer kürzer und eine substantielle Reduktion damit unwahrscheinlicher und unrealistisch.
Der britische Erdsystemwissenschaftler James Dyke bringt diese “neue Form der Klima(wandel)-Leugnung”, wie er es nennt, in einem Zeitungsartikel (Juli 2022) gut auf den Punkt:
“ I believe many are in denial about the types of solutions the climate crisis demands. Rather than do the – admittedly – very difficult political work of eking out our supplies of fossil fuels while accelerating a just transition to post-carbon societies, politicians are going all out on technological salvation. This is a new form of climate denial, which involves imagining large-scale carbon dioxide removal that will clean up the carbon pollution that we continue to pump into the atmosphere.”
James Dyke
Nach über 30 Jahren von IPCC-Berichten, Konferenzen und Vereinbarungen müssen wir realistisch sein: “Emissions are not flat – they are surging. 2021 saw the second-largest annual increase ever recorded, driven by the rebound in economic activity after Coronavirus lockdowns,” so Dyke weiter. Ja, es gibt Erfolge und punktuelle THG-Reduktionen, aber “too little, too late”. Und es gibt vor allem das Gegenteil: Länder beschönigen ihre Zahlen, Kompensationen werden mehrfach verrechnet, Technologien wie Carbon Capture, von denen man sich viel verspricht, sind noch lange nicht im erforderlichen Grossmasstab verfügbar.
Business-as-usual lief bisher sogar auf eine Erwärmung von 4-5°C hinaus. Neuere Schätzungen sind optimistischer und pendeln sich bei 2,4 – 2,7°C bis Ende des Jahrhunderts ein. “A little lower is possible, with much more concerted action; a little higher, too, with slower action and bad climate luck,” schreibt der NYT-Klima-Reporter Wallace-Wells über diese neuen Prognosen. Wir waren also auf Kurs 4-5°C, und jetzt ca. 2,5°C, und mit viel Glück und Anstrengung etwas weniger.
Umso mehr stellt sich mir die Frage, wie ich solange an der Hoffnung auf 1.5°C festhalten konnte. Für eine mögliche Antwort bin ich bei der kanadischen Soziologin Kari Norgaard fündig geworden. Gemäss ihren Studien ist es nicht fehlendes oder falsches Klimawissen, dass zu dieser “neuen Form der Leugnung” führt, sondern schlechte, unangenehme Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst und Schuld:
“Emotions including fear about a future with more heat waves, droughts, and increased storm intensity and fear that our present political structures are unable to effectively respond take place within social context in which such emotions are silenced, and a political economic context of techno-optimism and green capitalism on the one hand and dire apocalyptic scenarios on the other, together create a kind of paralysis across the ‘mainstream’ and political left who otherwise believe the climate science.”
Kari Norgaard
Statt sich öffentlich zu engagieren und politisch aktiv zu werden, ignoriert der liberale und linke Teil des politischen Spektrums lieber gewisse “Klima-Wahrheiten” und setzt auf Techno-Optimismus und grünen Kapitalismus. Überzogene Erwartungen an nicht-existente Technologien und Green Washing statt Realismus inkl. unangenehmer Gefühle!
An anderer Stelle spricht Norgaard sogar von Trauma:
“We argue that climate change constitutes a potential cultural trauma in two senses. First, the unusual natural events linked to climate change, such as fire and flood, can serve as a direct disruption of social practice and thus create potentially traumatic outcomes. Second, climate change constitutes a profound symbolic challenge to the existing social order and is thus a potentially traumatic threat.”
Kari Norgaard & Robert Brulle
Ich kann mich gut in Norgaards Beschreibungen wiederfinden. Die Geschichte meines Umgangs mit Klimawandel und Anthropozän ist eine lange Geschichte des Verdrängens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens, später der “Lösungssuche” (MA-Arbeit über Hulme und Latour).
“Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?” fragte der Schriftsteller Jonathan Franzen 2019 im New Yorker. Und obwohl er ein “ausgewogenes Portfolio” von realistischen Hoffnungen entwirft, wofür “Ehrlichkeit und Liebe die Bedingungen” sind, wie er im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt, war die Reaktion der Klima-Community geradezu bösartig negativ: “Wenn man so will, hatte ich das geradezu herausgefordert, indem ich implizierte, dass sie die Realität des Klimwandels leugnet, wenn auch auf ihre Weise.”
Diese Formen der Leugnung durch einen grossen Teil des politischen Spektrums, um schlechte, unangenehme Gefühle zu vermeiden, stellen die Wirksamkeit der gängigen Strategien in Frage. Alarmismus (“I want you to panic”) und Katastrophismus (“Selbstverbrennung”) sind vielmehr kontraproduktiv; apokalayptische Szenarien rufen die Paralyse erst hervor.
“A false hope of salvation can be actively harmful. If you persist in believing that catastrophe can be averted, you commit yourself to tackling a problem so immense that it needs to be everyone’s overriding priority forever. One result, weirdly, is a kind of complacency: by voting for green candidates, riding a bicycle to work, avoiding air travel, you might feel that you’ve done everything you can for the only thing worth doing. Whereas, if you accept the reality that the planet will soon overheat to the point of threatening civilization, there’s a whole lot more you should be doing.”
Jonathan Franzen